Blog State of the Union

Die Saison ist erst zu Ende, wenn Urs Fischer das sagt

„Es liegt nicht an uns zu träumen, es liegt an uns zu liefern.“ Das waren die Worte von Trainer Urs Fischer am Samstag (Tagesspiegel). Doch das hat er nicht gesagt, weil er niemanden die Feier gönnt. Ganz im Gegenteil. Sowohl Mannschaft als auch Fans haben nicht nur während des Spiels, sondern auch danach einiges abgerissen. Und die Bilder und Videos aus dem Sonderzug zurück nach Berlin haben eine Kondition gezeigt, wie ich sie nach dieser Saison mit den vielen Englischen Wochen dank Europacup und DFB-Pokal kaum für möglich gehalten hätte. Schließlich sind wir Fans aufgrund der vorhergehenden Pandemie-Beschränkungen nicht so gut im Training wie die Mannschaft.

Was bringt also Urs Fischer dazu, diesen Satz zu sagen? Der Trainer hatte auf der Pressekonferenz schließlich verschiedene Worte gesucht, um zu beschreiben, was Union in dieser Saison mit der erneuten Qualifikation für Europa gelungen ist (Berliner Zeitung). „Wahnsinn!“, sagte er am Anfang mit einer Stimme, die für alle in diesem Moment hörbar unter der Anstrengung des 4:1 in Freiburg gelitten hatte. „Außergewöhnlich“, versuchte er es ein paar Sätze später. Vielleicht muss er erst noch ein paar Tage darüber nachdenken, welches Wort die Saison am besten beschreibt.

Viele Brüche in der Saison

Denn die Spielzeit war aus Union-Sicht alles andere als ein Selbstläufer und hatte zwischendurch immer wieder das Potenzial, die Mannschaft und das, was sie zusammenhält, zu schädigen. Sei es durch die vielen Abgänge von Leistungsträgern in der Sommer-Transferperiode. Sei es durch einen mehr als sichtbar unzufriedenen und frustrierten Sheraldo Becker, der wegen der Nationalmannschaft einen großen Teil der Vorbereitung verpasste und zum Saisonstart auf so wenig Einsätze kam, dass er sich öffentlich darüber beschwerte.

Sheraldo Becker wird bei seiner Auswechslung von Urs Fischer und Sebastian Bönig empfangen, Foto: Matthias Koch

Dann waren da die Europapokalspiele, die schon gestandenere Bundesliga-Teams zuvor aus dem sportlichen oder mentalen Rhythmus gebracht hatten und zusätzlich das Hin und Her mit den Coronaregeln, was sich einerseits in der Zahl der zugelassenen Zuschauer zeigte, aber auch den 1. FC Union (zumindest unter den Anhängern) zu zerreißen drohte. Es war ein mehr als deutlicher Riss, der die Brüchigkeit im Zusammenhalt unserer Gesellschaft, aber auch in der Unionfamilie zeigte.

Der plötzliche Weggang von Max Kruse war dagegen vor allem ein sportlicher Verlust. Doch wie alle Abgänge von dominanten Personen bleibt da selten ein Vakuum übrig, denn der Raum wird gefüllt. Plötzlich kommen die Fähigkeiten anderer zur Geltung, die vorher entweder nicht sichtbar oder nicht gefragt waren. Eine Fußballmannschaft ist da auch nicht anders als jedes beliebige andere Team. Bei Union ist das vor allem sichtbar durch den Formaufschwung von Grischa Prömel und Sheraldo Becker.

Union ist noch nicht fertig mit der Saison

Und dann, das kommt bei der ganzen Situation noch hinzu, hat Union zwar mit 54 Punkten schon eine Ausbeute vorzuweisen, die vergangenes Jahr locker für Qualifikation zur Europa League gereicht hätte. Aber trotzdem ist diese Qualifikation in dieser Bundesliga-Saison noch nicht sicher. Es geht nicht darum, sich zu überlegen, welchen Wettbewerb man vielleicht lieber hätte. Es ist erstens der absolute Wahnsinn, dass der 1. FC Union sich überhaupt wieder für Europa qualifiziert hat. Und zweitens geht es immer darum, sportlich das Maximum zu erreichen.

Es dürfte deshalb niemanden bei Union geben, der jetzt sagt: „Ach, Conference League war so schön, das reicht uns.“ Mit diesem Gedanken im Kopf würde das Team am letzten Spieltag gegen Bochum keine Chance haben. Deshalb sagte der Trainer: „Es liegt nicht an uns zu träumen, es liegt an uns zu liefern.“

Urs Fischer gibt während des Spiels in Freiburg Anweisungen, Foto: Matthias Koch

Dankbarkeit

Ich bin übrigens ganz bei Urs Fischer. Mir fehlt das eine Wort, das alles beschreibt. Aber mir ist das auch ein bisschen egal. Denn ich habe im Gegensatz zum Trainer nicht daran mitgearbeitet und musste keine Entscheidungen treffen. Aber ich spüre eine tiefe Dankbarkeit. Denn ich habe unfassbar von der Arbeit des Trainerteams, der Mannschaft und aller anderen bei Union profitiert.

Denn es war Union, das mich immer wieder mit Glücksgefühlen vollgepumpt hat. Und zwar in Momenten, in denen ich vielleicht so weit entfernt vom Fußball war wie noch nie. Das hat mich aber nicht davon abgehalten hinzugehen und das zu spüren, was in der Pandemie vielleicht ein wenig verloren gegangen ist: Erlebnisse. Und zwar gemeinsam mit anderen.

Und Union gibt mir auch jetzt noch Glücksgefühle in Momenten, in denen die Sorge um Freunde in der Ukraine sehr groß ist und vieles im wahrsten Sinne des Wortes kaum zu ertragen ist. Nie war es wahrer als in dieser Saison: Wir brauchen Union wie die Luft zum Atmen.

Als ich am Wochenende diese Episode von Studio Komplex zur Situation des Profifußballs hörte und der Moderator sagte, dass er null Bezug zum Fußball habe, dachte ich erst: Das ist schön für dich, weil deine Stimmung nicht von Spielergebnissen abhängig ist. Aber dann kam mir gleich der nächste Gedanke: So ist das Leben aber auch ganz schön langweilig.

Das sind die weiteren Berichte der Berliner Medien:

Wer nicht genug vom Wochenendgefühl bekommen kann, sollte sich unbedingt die aktuelle Episode von Taktik&Suff anhören, in der die beiden Jungs voller Glücksgefühl und mit schwerer Zunge noch einmal das Freiburg-Spiel besprechen.

Wir nehmen heute Abend um 20 Uhr unseren Podcast auf. Ihr könnt live zuhören, wenn ihr wollt.

Auf den anderen Plätzen

Die Frauen-Teams haben am Wochenende identisch gespielt. Die erste Mannschaft gewann mit 5:0 gegen Magdeburg. Spielbericht kommt später hier. Und die zweite Mannschaft war mit 5:0 erfolgreich. Und zwar gegen Berolina Mitte. Damit festigt Unions 2. Frauen den ersten Platz in der Berlin-Liga.

8 Kommentare zu “Die Saison ist erst zu Ende, wenn Urs Fischer das sagt

  1. Jöhei

    O, man Sebastian,
    du treibst einen am Montag früh
    mit deinen Worten die „Feuchtigkeit“ in die Augen!
    Danke!
    Das muss die geilste Unionwoche werden!
    u.n.v.e.u.r.o.p.a.

  2. Cuttertom

    Wieder mal die richtigen Worte für unsere emotionale Wirrnis im Kopf und Herzen gefunden und gut in den großen Kontext eingeordnet. Danke, Seb.

  3. Der Herr schreibt hier (leider) nicht mehr so oft. Aber wenn, dann richtig.
    Dazke für die *erpelpelle*

    • @Y. In dem Zusammenhang vielleicht noch eine kleine Nachricht: Ich schreibe ab jetzt wieder jeden Montag hier den State of the Union.

  4. Frank Nussbücker

    1. Danke, lieber Sebastian! Schreibst mir aus dem Herzen …
    2. Werde Dich wohl in meinem Fazit nächste Woche und alsbald im Buch zitieren müssen, auch in dieser Beziehung ein Danke
    Dein Schreiberkollege
    Nussi

  5. Silvio

    Emotional komplett abgeholt. Das ist jetzt schon das Highlight des Tages. Danke.Sebastian!

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