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König der Fischer

„In den 30 Jahren unter den Borgias hat es nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blutvergießen, aber dafür gab es Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe, 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr!“

Harry Lime im Film „Der dritte Mann“

„Genau. Hier.“

Urs Fischer. Auf der Pressekonferenz vor dem Relegations-Rückspiel 2019 gegen den VfB Stuttgart, als er ungläubig auf die Frage antwortet, wo seine Familie das Spiel lieber sehen würde, im Stadion an der Alten Försterei oder zu Hause in der Schweiz.

Urs Fischer, Illustration: Emily Sweetman
Urs Fischer, Illustration: Emily Sweetman

Urs Fischers Jugend wirkt ziemlich idyllisch. Als Kind war er nicht etwa in einer Schneekugel eingeschlossen, jedenfalls nicht verglichen mit den paar Verhätschelten, die am Ufer des Sees aufwuchsen, der den gleichen Namen wie seine Heimatstadt Zürich trägt. Urs‘ zukünftiger Boss Ancillo Canepa zum Beispiel sagte einmal, dass er ein Haus am linken Ufer des Sees bauen würde, wenn es sein muss, aber sehr viel lieber am rechten, und am besten mit einem Park groß genug für einen Fußballplatz. Denn das waren die Dinge, um die er und seine Möchtegern-Nachbarn sich dort kümmern würden.

Der junge Urs wuchs geliebt und behütet auf. Und er hat ganz sicher nicht den Fußball gebraucht, um sich aus einer Armut zu befreien. Aber das soll nicht heißen, dass er den Fußball nicht gebraucht hat. Also sagte ihm sein Vater, dass er natürlich so viel Fußball spielen könne, wie er möchte – solange er seine Lehre als Bankkaufmann abschließen würde. Manche Vorurteile stimmen eben doch. Und so sehr uns dieses Bild vielleicht gefallen würde: Urs Fischer als einen flüchtigen Romantiker und Träumer zu zeichnen, wäre nicht richtig.

Über seine Zeit bei der Bank sagte Urs mir, sie sei „vollkommen normal“ gewesen, aber durchaus wertvoll auf ihre Art. „Ich habe gelernt, dass ich, wenn ich etwas gebe, auch etwas zurück bekomme“, sagte er.

Und nachdem Urs erledigt hatte, was von ihm verlangt wurde, durfte er im Gegenzug Fußball spielen. Also spielte und spielte und spielte er. 545 Mal hat Urs Fischer in der ersten Schweizer Liga gespielt. Mehr als die Allermeisten vor oder nach ihm.

Christoph Kieslich lebt seit anderthalb Jahrzehnten in der Schweiz. Dort ist nun seine Heimat. Er versteht das Land, seinen Fußball und seine Leute. Er ist dort aufgewachsen, sagt er. Und er sagt, dass die Schweizer sich zwar durchaus in sportliche Erfolge hineinsteigern können, aber dass sie keine Sportler zu Göttern erheben, nur um sie danach wieder zu stürzen.

„Es ist anders als in Deutschland oder England, wo man nur berühmt wird, wenn man erfolgreich ist. Sie bilden hier Charaktere, aber sind zurückgezogen. Es gibt nicht denselben Erfolgsdruck. Nicht alle müssen absolute Helden sein.“

„Fischer“, sagt Kieslich, „stand immer etwas im Schatten.“

Schnell im Kopf

Fischer ist nicht groß gewachsen und er sieht nicht wie ein Verteidiger aus. Er war vor allem ein spielmachender Libero. Erst recht sieht er nicht aus wie ein früherer Verteidiger. Seine Nase ist beispielsweise weder gebrochen noch steht sie quer in seinem Gesicht. Fischer sagte, dass er aufmerksam gespielt, „immer gut antizipiert“ habe.

„Warst du schnell?“, fragte ich ihn.

„Nein, nein, war ich nicht.“

Aber er fügte hinzu, dass er „schnell im Kopf“ war. Auch wenn das nicht beschreibt, wie intelligent er tatsächlich als Fußballer war. Denn er sah auf dem Feld Dinge, bevor sie passierten.

Erst später, als ich meine Notizen von der Pressekonferenz vor dem entscheidenden zweiten Relegationsspiel gegen Stuttgart, das den 1. FC Union Berlin in die Bundesliga gebracht hat, noch einmal durchgehe, fällt mir auf, dass er damals dasselbe gesagt hat. Dass du „nicht immer der schnellste auf den Beinen sein musst, wenn du antizipieren kannst, wenn du schnell im Kopf bist.“

Aber der Spieler Fischer hatte noch etwas anderes. Er hatte den Willen, seine Mitspieler und seinen Verein nie hängen zu lassen und immer weiterzuspielen. Er hätte gespielt, bis die Welt untergeht, wenn er glaubte, dass er damit noch einen Punkt retten kann. Fischer sagte, dass er „ein Kämpfer war, ein Mentalitätsspieler.“ Aber er hatte auch eine Ballverarbeitung, für die andere alles geben würden. All diese Spiele haben seine Technik verfeinert wie nur bei wenigen anderen. Er konnte den Ball so kontrolliert spielen wie ein Snookerspieler, der ein Break aufsetzt.

Urs Fischer als Spieler
Urs Fischer hat sein Ballgefühl noch. Foto: Matze Koch

„Ja“, sagte er in einem Satz, aus dem das Understatement spricht, „ich glaube schon, dass ich etwas beitragen konnte.“

Fischer kam mit sieben Jahren zum FC Zürich. Der Letzigrund war seine Schule, seine Kirche, sein Park und seine Kneipe. Der FCZ war ein großer, ehrwürdiger Club und hatte seinen Platz fast an der Spitze der ewigen Schweizer Fußballhierarchie. Aber er hatte zu der Zeit auch seit einer ganzen Generation keinen Titel mehr gewonnen.

Der Autor und Historiker Fabian Brändle hat über Urs Fischer geschrieben, dass dieser nie aufgehört habe, selbst wenn sein Körper nachgegeben hat. Selbst wenn es sich mit der Last von den hunderten Spielen in seinen Beinen angefühlt habe, als würde er einen Reifen hinter sich her ziehen. – Brändle nennt Fischer „Üse“. In genau diesem Zürcher Akzent, gegen den Urs ankämpft, seit er in Berlin ist. Der verschwindet aber nicht, egal wie viel sicherer Fischer Hochdeutsch spricht. Als er zuerst hier ankam, nutzte er Wörter wie ’schlussendlich‘ als Krücke, um sich in Sätzen darauf zu stützen.

Er hat nie aufgehört, bis er schlussendlich seinen Verein zu etwas getragen hat. Zum Gewinn des Schweizer Pokals, ein Titel, den der Club seit 1976 nicht mehr geholt hatte.

Natürlich schoss und verwandelte Urs Fischer einen Elfmeter

Das Finale ging in die Verlängerung, und die Züricher wurden von ihrem Kapitän mitgezogen zum Sieg. Beim Schlusspfiff stand es 2:2. Und der FCZ war nach der Roten Karte für den südafrikanischen Stürmer Shaun Bartlett in Unterzahl. Fischer selbst war gerade eine Minute vorher für eine Unsportlichkeit verwarnt worden. Er sagt, dass er nicht mehr weiß wofür, aber wahrscheinlich wollte er etwas Zeit von der Uhr nehmen. Oder er hat etwas gesagt, dass er nicht hätte sagen sollen.

Natürlich hat Fischer dann den ersten Elfmeter geschossen, ohne dass irgendjemand diese Reihenfolge in Frage gestellt hätte. Natürlich übernahm Fischer diese Verantwortung und natürlich hat er ihn verwandelt. So wie er es im Training vor dem Finale immer wieder getan hatte, wie er nach dem Spiel erzählte.

Und natürlich überließ er dem Club-Präsidenten Sven Hotz den Vortritt. Dessen Leben war der FC Zürich und er hatte seinem Vorgänger auf dessen Totenbett versichert, den Verein nicht in Schwierigkeiten geraten zu lassen. Sven Hotz durfte also den Pokal in die Höhe stemmen. Und wenn der Schweizer Bundespräsident Adolf Ogi lange genug dafür im bröckelnden, vor sich hinrostenden Wankdorf-Stadion mit seinen Holzbänken geblieben wäre, hätte Fischer jeden der Zürich-Fans die Trophäe halten lassen, bevor er selbst den Pokal in die Hände genommen hätte.

Denn es waren Hotz und die Fans, denen Fischer den Titelgewinn widmete.

Er sagte, für 29 Jahre voller Enttäuschungen sei der Pokalsieg beinahe zu wenig, aber er sei trotzdem erleichtert gewesen. Die Neue Zürcher Zeitung zitierte Fischer damit, er habe daran gezweifelt, jemals noch einen Titel mit Zürich zu gewinnen.

Für die Webseite Der Tödliche Pass hat Fabian Brändle über diese bemerkenswerte Nacht geschrieben: „Ich war an diesem denkwürdigen Spiel präsent. Endlich, nach so vielen herben Niederlagen, hatte der FCZ wieder einmal einen Titel gewonnen. Das war Balsam auf die vernarbte Fanseele.“

Das Schwerste im Fußball

Fischer schaffte danach nur noch zwei Saisons als Spieler. Aber so, wie er seine Bankausbildung machen musste, bevor er spielen konnte, wusste er nun, dass er erneut würde lernen müssen, um sich als Trainer zu entwickeln.

Fischer wirkte etwas verärgert, als ich andeutete, dass er zu Beginn seiner Trainer-Karriere, nachdem er schließlich als Spieler seine Schuhe an den Nagel gehängt hatte, nicht der geduldigste aller Trainer war. Ich hatte gelesen, dass er damals Spieler angeschrien habe, dass er es nicht hätte nachvollziehen können, wenn jemand seinen Körper nicht so wie er bedingungslos in Zweikämpfe geworfen hat. Dass es ihn frustriert habe, wenn Stürmer das Tor nicht trafen (anders als in einer anderen Aussage vor Unions Aufstiegsspiel gegen Stuttgart, als er sagte, den Ball über die Linie zu bekommen, sei „eben das Schwerste im Fußball“). Es störte ihn, wenn Spieler nicht seine Übersicht im Spiel hatten, seine Fähigkeit zu wissen, wohin der Ball kommen würde. Oder schlimmer, wenn sie überhastet in einen Zweikampf gingen oder einen Pass spielen mussten, weil sie sich einen Ballkontakt zu viel geleistet hatten.

Ich war mir sicher, dass ich von all dem gelesen hatte, und fragte Fischer danach. Aber er bekam es in den falschen Hals. Und ich zweifelte sofort an meiner Frage. „Wo haben Sie das gehört“, fragte Fischer zurück. Natürlich sei er geduldig gewesen. Fischer begann als Trainer im Nachwuchs, mit einer U14-Mannschaft. Er arbeitete sich nach oben bis zur U23. Immer mit derselben Gewissenhaftigkeit lernend, die ihn auch als Spieler ausgezeichnet hatte. Er zahlte sein Lehrgeld.

Er hatte sogar in einer verdammten Bank gearbeitet, um dahin zu kommen, wo er hin wollte. Niemand kann ihm fehlende Geduld vorwerfen.

Fischer hat graue Augen, deren Ausdruck von den Falten um sie herum kommt. Irritiert ihn etwas, schaut er sein Gegenüber fragend an, als könne er nicht verstehen, was es da nicht zu begreifen gibt, wo die Antwort doch so offensichtlich ist. Seine Haare hat er für die meiste Zeit spitz nach oben getragen – zuvor war es eine Topffrisur. Ganz kurz trug er einen Vokuhila, der mit wagnerianischem Pomp wehte, bis er den Haarschnitt eines amerikanischer Schuljungen annahm, wie ein Teil des Casts von Malcolm in the Middle –?und die vorderen Spitzen wippen traurig. Und lachend, weil ich es an diesem Punkt doch verstanden haben müsste.

Wenn jemand sagt: Es ist aus

Der Nachfolger von Hotz in Zürich liebte Fischer und sagte später, dass die Berufung Fischers zum Trainer nach dessen langer Lehre die beste Entscheidung gewesen sei, die er je getroffen habe. Es war der bereits erwähnte Canepa, ein früherer Buchhalter mit Charme und viel Geld.

Kieslich zufolge hatte er Fischer nur ein Ziel vorgegeben: „Basel ihren Meistertitel abzunehmen.“ Zürich spielte den Großteil der Saison über stark und blieb Basel auf den Fersen. Aber es reichte nicht ganz. Am Ende war Fischer nur eine Niederlage – wegen eines ‚lucky punch‘ – entfernt davon, zum ersten Mal Schweizer Meister zu werden.

Seine Entlassung nach dem mehr oder weniger unvermeidlichen Formtief im folgenden Jahr war bitter. „Es ist für einen Trainer immer hart, wenn man zum ersten Mal entlassen wird“, sagte Kieslich, „wenn zum ersten Mal jemand sagt: Tschüss. Fertig. Es ist aus.“

Canepa brach Urs das Herz, wisst ihr.

Fischer sagte, dass er danach für vier Monate den Kopf hängen ließ, dass er sich Sorgen gemacht habe, Leute würden sich von ihm abwenden. Die Spuren seiner Tränen waren noch erkennbar als er Jahre später dem Kicker sagte: „Die erste Entlassung tut jedem gut, obwohl sie scheiße ist. Sie zieht dir den Boden unter den Füßen weg, du meinst, die Welt steht still. Es ist ein komisches Gefühl. Aber genau das Gefühl musst du erleben.“

Er fand Trost beim FC Thun, einem Club, der kaum einen Platz in der Hackordnung des Schweizer Fußballs hat. Der nichtmal ein Hügel im Gebirge der Fußball-Hierarchie des Landes war.

Aber Thun war ein gut geführter Verein, der verbissen an seinem Platz in der ersten Liga festhielt, auch wenn sie Trainer so sehr verschlissen wie Garrincha Außenverteidiger. Und auch wenn die Stockhorn Arena kastenförmig und funktional ist und wenig Glanz versprüht, ist sie doch nur einen Steinwurf von der Nordflanke des Berges entfernt, nach dem sie benannt ist, und ist dieser Berg an einem klaren Tag von den Rängen aus sichtbar, wie er sich mächtig erhebt wie der schneebedeckte Buckel eines gewaltigen Bisons.

Stockhorn Arena
Die Stockhorn Arena und der gleichnamige Berg im Hintergrund, 2019. Foto: Vincenzo.togni (CC-by-SA 4.0) via Wikimedia Commons

Als Ernest Hemingway die Schweiz einst als ein Land beschrieb, in dem es mehr hoch oder runter als zur Seite ginge, hatte er diesen Teil der Berner Alpen im Kopf. Vom Gipfel des Stockhorns kann man den Eiger, die Jungfrau und die gezackte Spitze des Schreckhorns sehen. Ein Gedicht von Johann Müller aus dem Jahr 1536, zitiert in Francis Gribbles The Story of Alpine Climbing erwähnt den Berg so:

And reach the Stockhorn’s top. Whence, looking down,
Eastwards we see lakes, marshes, and a town,
The torrents of the Simmenthal – to west,
Mountains like billows on the seas broad breast.

Es ist klar, warum Fischer sich entschied, hier den nächsten Schritt in seiner Trainerkarriere zu gehen. Und warum der feste Händedruck des Club-Präsidenten ihn seine Enttäuschung und Trübsinn über seinen früheren Boss vergessen ließ.

Alles schon gesehen

Dass Fischer mit Thun einen vierten Platz und den UEFA-Cup erreichte, war eine verblüffende Leistung. Unter den europäischen Partien war ein wildes, bösartiges Spiel gegen Partizan Belgrad dabei, bei dem deren Fans Feuerwerkskörper auf die Heimtribünen regnen ließen. Als Hertha-Fans im Stadion an der Alten Försterei Raketen in Richtung der Union-Tribünen schossen, nahm Fischer kaum Notiz von den hässlichen Szenen – er hatte all das schon einmal gesehen.

Kieslich kam etwas von seinem Gedankengang  ab, als ich ihn fragte, wie beeindruckend Fischers Erfolg mit Thun wirklich gewesen sei. „Es war unglaublich, absolut außergewöhnlich“, sagte er, bevor er vier weitere „ja“ und mindestens ein „außergewöhnlich“ anhängt, auch wenn das eigentlich nicht mehr notwendig gewesen wäre.

Kieslich erzählte die Geschichte weiter: „Basel hatte zu der Zeit Paolo Sousa. Das war ein kluger Typ, ein hervorragender Spieler, der Fußball seiner Mannschaft hat Spaß gemacht und war interessant. Aber er hatte seine eigenen Pläne. Sousa ist nie länger als zwei Jahre irgendwo geblieben. Er ist ein sehr selbstgewisser Mann. Es ist sehr schwer, ihm nahe zu kommen und schwer ihn zu verstehen.“

Er sagte auch, dass Sousa selbst nur der letzte in einer Reihe von Trainern gewesen sei, die für eine Zeit nie dagewesenen Erfolgs in Basel verantwortlich waren. Doch all diese Erfolge brachten auch Angst und Selbstbefangenheit mit sich. Sie haben ständig Angst davor gehabt, in den damit einhergehenden Turbulenzen zu straucheln.

Also brauchten sie jemanden, der alles zusammenhalten konnte. Jemanden, der mit seinen Füßen fest auf dem Boden der Tatsachen stand. Jemanden, der eine Mannschaft formen konnte, in der grundsätzlich einige Spieler unzufrieden waren. Sie hatten internationale Spieler, die es teilweise kaum in den Spieltagskader schafften. Sie mussten bei Laune gehalten werden. Und das Gefühl des Clubs hing davon ab.

Einer von uns

Fischer hatte kurz nach seiner Verpflichtung in Basel gesagt, dass es dort keine Verständnisprobleme für ihn geben sollte. Schließlich hätten die Leute in den Berner Alpen seinen Dialekt auch verstanden. Das war nicht ganz ernst gemeint. Aber ihm war bewusst, dass die Gefahr bestand, dass er abgelehnt werden könnte. Denn von seinem Dialekt bis zur Statistik von hunderten Spielen war klar, dass er seit er sieben Jahre alt war, sein Leben beim FC Zürich verbracht hatte, nur von einem einzigen, wenn auch langen Abstecher nach St. Gallen unterbrochen.

2006 war es zu Ausschreitungen gekommen, als Zürich mit einem Tor in der letzten Minute der Nachspielzeit des letzten Saisonspiels im direkten Duell mit Basel die Meisterschaft gewann und so den Gastgebern den Titel wegschnappte. Das Ganze ging als Schande von Basel in die Geschichtsbücher ein. Das Problem wurde dadurch aber eigentlich nur besonders prägnant dargestellt. Dieses Problem war: Der FCZ und der FCB hassten sich gegenseitig.

Als Urs Fischer zu seiner Vorstellung als Trainer von Basel ging, wurde am Eingang zum Medienbereich ein Banner zu seiner „Begrüßung“ aufgehängt. Darauf stand in großen, schwarzen, runden Buchstaben und auf Schweizerdeutsch:

Urs Fischer: Niemals einer von uns.

In seiner zweiten Saison – nach der erwarteten Meisterschaft in der ersten – gewann Fischer mit Basel das Double. Der FCB übernahm am zweiten Spieltag die Tabellenführung und gab sie nicht mehr ab. Die Saison war eine absolute Demonstration ihrer Macht und Überlegenheit in der Liga, aber Fischer wurde zum Opfer des Erfolgs seines eigenen Clubs und der gestiegenen Erwartungen in der Champions League.

Die Medien warfen ihm vor, die Mannschaft zu konservativ einzustellen. Und ein neuer Vorstand wollte einen Trainer, der den Club von Grund auf neu aufbaute. Die Neue Zürcher Zeitung nannte Fischers Entlassung eine „Emanzipation von der Vergangenheit“. Was auch immer das heißen sollte.

Fischer selbst wurde damit zitiert, dass ihn die öffentliche Wahrnehmung seiner selbst gestört habe, in der ihm seine Bodenständigkeit zum Vorwurf gemacht wurde.

In unserem Gespräch über Ruhm im Schweizer Sport erwähnt Kieslich Roger Federer. Er sei anders, habe einen anderen, himmlischen Status. Und dass „Federer nicht mehr ein Nationalheld, sondern eine globale Ikone ist“.

Trotzdem war Federer auch unter den Zuschauern bei Fischers letztem Spiel als Basler Trainer. Er kam ganz in Schwarz gekleidet, mit einer schicken Uhr und der Aura ländlichen Adels um sich herum. Die Fernsehkameras hoben ihn hervor, obwohl er darauf achtete, halb verdeckt zu bleiben. Es war, als verleihe er dem scheidenden Coach einen Status. Beinahe so wie ein römischer Kaiser, der einem Gladiator das Leben schenkt.

Fischer trug ein weißes Hemd mit offenem Kragen und nach oben gerollten Ärmeln, mit teuren Jeans. Im Style ein bisschen so wie mittelalte Geschäftsleute, die ausgehen wollen. Er lächelte und registrierte den Applaus für sich, klatschte selbst allen vier Seiten des Stadions zu. Den Job zu verlieren, tat nicht mehr so sehr weh wie beim ersten Mal. Denn er hatte sich darauf vorbereiten können und wusste, woher der Wind weht.

Wieder gab es ein Banner, mit einer Botschaft in großen, hellen, freundlichen Buchstaben und auf Schweizerdeutsch. Diesmal stand darauf:

„Urs: Einer von uns“.

Später sagte Fischer, er habe das Banner gesehen und dass es sich wie eine „Bestätigung“ angefühlt habe. Das ist auch okay, denn wer möchte nicht gesagt bekommen, dass er gut genug ist? In einem Interview mit der Aargauer Zeitung sagte Fischer auf die Frage, ob er so eine Bestätigung suche: „Wer nicht? Auch Ihnen ist es lieber, für Ihre Arbeit gelobt, statt kritisiert zu werden.“

Kieslich erzählte mir von einem Gespräch mit einem früheren Basler Verantwortlichen, der gesagt habe, dass von all den Trainern in diesem Jahrzehnt nie dagewesener Dominanz Fischer der beste gewesen sei.

Es ist gesund, es ist leicht

Germano Vailati war in dieser Zeit Basels zweiter Torhüter. Er war im Alter von 33 Jahren zu Basel gewechselt, nach einer Karriere mit vielen Stationen in der Schweiz und Frankreich. Als er nach Basel kam, hatte er neben seinen Torwarthandschuhen, die Gewinnermedaillen der zweiten Schweizer Liga und des Schweizer Pokals, sowie eine ganze Menge Angel-Equipment dabei.

Seine fehlende Spielzeit störte ihn nicht – der Wechsel war schließlich seine eigene Entscheidung gewesen – umso weniger, da er beim erfolgreichsten Verein des Landes unter Vertrag stand. Er war glücklich. Er spielte 14 Partien in sechs Jahren.

„Das war die beste Zeit meiner Karriere“, sagt Vailati am Telefon, denn er habe fußballerischen Ruhm nicht für ein zufriedenes Leben gebraucht.

Vailati war es auch, der Fischer zu seiner einzigen Leidenschaft gebracht hat. Also jenseits des Fußballspiels, das er liebt, und seiner Familie, die er vermisst.

Urs Fischer
Urs Fischer geht ins Netz. Foto: Matze Koch

„Urs sagte, Fliegenfischen sei nichts für ihn. ‚Gut, kein Problem‘, sagte ich. Aber dann sind wir einmal nach Crans-Montana gefahren, an einen kleinen See. Und er kam vorbei, um es sich bei mir einmal anzuschauen. Dann hat er es einmal selbst ausprobiert und festgestellt: ‚Oh, ich bin nicht so schlecht darin!'“ Am folgenden Montag bekam Germano die Order: „Kannst du bitte die ganzen Sachen einmal bestellen? Ich will mit dem Fliegenfischen anfangen.“

Geangelt hatte Fischer schon vorher. Sein Vater hatte ihm die erste Angel zu Weihnachten geschenkt, als er noch Kind war. „Ein Geschenk musst du ausprobieren, oder nicht?“, sagte Fischer zu mir.

Mit seinem Vater war Fischer dann zur Quaibrücke gegangen, die 1895 von Arnold Bürkli erbaut wurde. Von dort konnte er die Villen von Millionären am Ufer des Sees schlafen und funkeln sehen, und wie sich die Stadt für einen neuen Tag in Bewegung setzte. Max Frisch, der eigentlich Architekt war, dann aber einer der prägenden Schriftsteller und Bühnenautoren seiner Zeit wurde, schrieb über die Brücke einmal, dass „ihre Bögen glitzern wie eine gebogene Sense, die durch die grüne, hügelige Landschaft schneidet.“ Auch Frisch war ein berühmter Sohn Zürichs, der ebenso wie Bürkli und Fischer eine Affäre mit Berlin hatte.

Aber die Quaibrücke stellte sich zum Angeln als zu zentral gelegen heraus. Vailati zeigte Fischer später, dass die kalziumreichen Gewässer auf dem Land fast so schön sein können wie der perfekt geschnittene Rasens eines Fußballplatzes. Das war etwas anderes.

Diejenigen, die sich damit auskennen, sprechen vom Fliegenfischen als einer fast spirituellen Erfahrung. Biber und Reiher und – in der kräuselnden Dunkelheit, wo sie sich am wohlsten fühlen, weit weg vom grellen Sonnenlicht – reichlich Forellen. Zwischen dem Rascheln der Blätter, dem Schwappen des Wassers und der Kühle der Luft sind Lieder zu vernehmen. Dann Stille. Und nur dein Atmen im richtigen Moment und das Warten. Dazu das Wissen, dass Schatten und Windböen hunderte Meilen stromaufwärts die wohlwollenden Bewegungen des Flusses beeinträchtigen können. Ein Zusammenkommen von Natur und Mensch.

„Es ist gesund, es ist leicht, es hat nichts mit der Arbeit zu tun. Jeder ist da, weil man Lust darauf hat, nicht weil man muss“, beschrieb Vailati das Hobby. Ich fragte ihn, ob sie dabei wie schweigende Mönche dastehen. So stelle ich mir das vor. „Nein“, sagte er, „du schaust auf den Fluss und redest über das Leben, wenn du willst. Es gibt keinen Stress dabei. Aber die Konzentration liegt ganz auf den Fischen, auf dem Fluss. Es ist fast unmöglich, beim Fliegenfischen an etwas anderes zu denken. Du musst fokussiert sein, dir überlegen, welche Fliege du verwenden willst, worauf die Forellen anbeißen, wie du deine Angel werfen musst …“

„Den einen Tag bist Du im Stadion mit 40.000 oder 50.000 Menschen – es ist chaotisch, und am nächsten Tag bist Du alleine in der Natur. Da kannst Du Kraft sammeln für die Woche und das nächste Spiel.“

„Es hilft mir auch mit meiner Arbeit, ich kann alles andere komplett ausblenden“, stimmt Fischer zu.

Man kann die Rute perfekt auswerfen, der Köder liegt perfekt am perfekten Punkt, und trotzdem will einfach kein Fisch anbeißen. Das Reizen, das Spiel, das Aufstellen von langfristig angelegten Fallen, der Wettkampf zwischen Angler und Fisch ist einem Spiel nicht unähnlich. Aber beide Männer beteuern, dass es nicht darum geht, wer diesen Wettkampf schlussendlich gewinnt.

Den perfekten Angler gibt es nicht, das macht den Charme aus – für jemanden, der so hart wie Fischer daran arbeitet, genau darauf mit seinem Team hinzuarbeiten.

„Ich finde es auch gut, nicht perfekt zu sein

„Nun, ich finde es auch gut, nicht perfekt zu sein“ sagt er zurückhaltend.

Dabei spricht er vermutlich aber nur übers Angeln.

Wegen der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus war die Pressekonferenz vor Unions Erstrundenspiel im Pokal gegen Türkgücü kurz vor dem Saisonstart 2021/22 die erste seit über anderthalb Jahren, die wieder im eigentlichen Presseraum stattfand, wie Christian Arbeit sofort anmerkte. Er lächelte, als er Fischer zu seiner Rechten vorstellte. Fischer lächelte ebenfalls und sagte, wie schön es sei, wieder hier zu sein. Er schien es ernst zu meinen, und er ist kein Mann, der Dinge sagt, die er nicht ernst meint.

Die Wände sind in blassem Senfgelb gehalten, gelegentlich blitzen metallische Grautöne auf, die an Unions mythische industrielle Wurzeln erinnern sollen und auf Plastik gemalt sind. Es gibt einen Bären auf einem Ball, und die Namen von Fischer und von Arbeit stehen auf der Vorderseite ihrer Pulte.

Es sind jetzt weniger Kameras zu sehen als in der Hochphase der ersten beiden Spielzeiten in der Bundesliga, und vor allem weniger als zwei Tage vor dem Stuttgart-Spiel. Die vier Tischreihen, die kurzzeitig mit Journalisten aus verschiedenen Ländern und aus ganz Deutschland gefüllt waren, sind weitgehend leer. Es ist, als wären wir Übergebliebenen zum Nachsitzen da.

Es gab Fragen, einige nur zur Taktik und zu Verletzungen, andere zum Gegner und ob Fischer schon einmal im Grünwalder Stadion gespielt habe. (“Nein”, antwortete er und beließ es dabei). Und es gab immer noch Fragen zu Infektionsraten, Kapazitäten und Tests. Fischer wehrte die fußballerischen Fragen ab, ein Meister des Redens, ohne etwas zu sagen. Er sagte, dass Christopher Trimmel Kapitän bleiben würde, weil das alle wollten. Und wir alle stimmten zu, weil es keinen Besseren als ihn gibt. Niemanden, der menschlicher ist, aber auch engagiert und klug genug, um zu wissen, wie er sich und sein Spiel tatsächlich verbessern kann. All das hat man in den vergangenen drei Jahren gesehen.

Als Fischer erklärte, wie leicht aus einer Fünferkette mit ein paar Handgriffen eine Dreierkette werden kann, und dass der Unterschied zwischen den beiden wirklich sehr gering ist, wirkte er etwas gereizt. Denn, so deutete er an, das sind ziemlich grundlegende Dinge im Spiel.

Urs Fischer Pressekonferenz
Urs Fischer gibt auf Pressekonferenzen wenig preis. Foto: Matze Koch

Doch als die unvermeidlichen virologischen Fragen aufkamen, die Fragen der Gesundheitsbeamten, Politiker und Wissenschaftler, ignorierte er sie und überließ Arbeit den Vortritt. Dann blickte er über unsere Köpfe hinweg, klappte den Kiefer zusammen und wieder auseinander. Nur seine Augen verrieten, dass er gar nicht mehr im Raum war. Er war irgendwo, wo es schöner ist, auf einem Fußballplatz oder bis zu den Knien in einem schimmernden und stillen Fluss, mit einer Rute in der Hand und seinen Freunden in Sichtweite, die lachten und leise über das Leben und das Universum und alles Mögliche außer Fußball redeten.

„Wie geil ist es, wenn 25.000 Menschen singen“

Urs Fischer hat die Auswirkungen des Coronavirus nie heruntergespielt, obwohl er erwähnt hat, wie sehr er die Fans in den Stadien vermisst. Aber, wie er mir etwas später sagte, es gehört einfach zu seinem Job, nach Dingen gefragt zu werden, die nichts mit dem Spiel selbst zu tun haben. Dieser Job ist immer noch der beste der Welt. In welchem anderen Job hat man nicht auch etwas von diesem irrelevanten Mist zu ertragen. Fischer weiß, dass dies ein Preis ist, den er jedes Mal zu zahlen bereit ist. Er hat gesagt, dass er nie wieder Kinder trainieren könnte, weil es der Druck ist, den er an der Spitze spürt, von dem er sich ernährt. Es ist der Stress, der das Ganze lohnenswert macht.

“Ja”, sagte er, als er aus seiner Träumerei in den Presseraum zurückkam, “es wird schwer sein, in drei Wettbewerben zu spielen.” Aber er war sich sicher, dass sie es schaffen würden.

Am Ende hat er allen die Hand geschüttelt. Er ist der erste Union-Trainer, der diese Geste zur Gewohnheit gemacht hat. Das ist eine nette Geste, Claudio Ranieri macht das auch. Als Grund dafür vermutete ich zuerst, dass er zwar nicht glaubte, damit verhindern zu können, dass die Presse sich irgendwann gegen ihn wenden würde, wenn sein Team nicht mehr gewinnt. Aber dass es die Bastarde auf dem Weg nach unten zumindest ein wenig wohlgesonnener machen könnte.

Urs Fischer grüßt  gerne per Handschlag, hier mit Julian Ryerson, Foto: Matze Koch

Doch dann sagte er Christoph Biermann in seinem unverzichtbaren Buch Wir werden ewig leben, dass das Schlimmste am Lockdown der Mangel an menschlichen Kontakten sei. Er liebe es, seine Freunde zu umarmen, sagte er.

Biermann begleitete Fischer ein Jahr lang und beschrieb Unions erste (und, wie viele vermuteten, einzige) Saison in der Bundesliga. Seine erste ausführliche Reportage über den Verein schrieb er jedoch bereits 2013 für 11Freunde.

Wenn man auf diesen Artikel zurückblickt, fallen einem sofort Dinge auf, die man heute nicht mehr sieht: die Bilder von Jochen Lesching, der Programmhefte verkauft, von Torsten Mattuschka auf dem Spielfeld und dem Plastiktunnel, der sich von der Rückseite auf das Spielfeld schlängelt, während dahinter die neue, noch unfertige Tribüne steht. Er sprach von Derbys gegen Hertha BSC in der Zweiten Liga.

Und in den ersten Sätzen fragte er: “Wie geil ist es eigentlich, wenn 25.000 Menschen singen?” Nicht ahnend, dass “geil” genau das Wort sein würde, mit dem Fischer ein Jahrzehnt später die Atmosphäre an jenem Abend beschrieb, an dem Union gegen Stuttgart ein 0:0 erreichte und sich damit die Teilnahme an der obersten Spielklasse sicherte.

Ja, “geil” war in der Tat das perfekte Wort – als die Fackeln brannten und die Menschen mit stolzgeschwellter Brust auf dem Spielfeld herumliefen, sich umarmten und sangen – genauso wie es perfekt gepasst hatte, als Biermann es wählte. Fischer sagte später, diese Nacht sei wie ein Film gewesen, die Bilder der Alten Försterei in diesem Moment würden sich für immer in sein Gedächtnis einprägen.

Der Wandel, der sich vollzogen hat, seit Urs Fischer beim 1. FC Union Berlin ist, wäre bei der Veröffentlichung dieser Geschichte durch 11Freunde noch unvorstellbar gewesen. Aber wie jeder Angler weiß, kann man nie zweimal im selben Fluss stehen.

Ich fragte Biermann, was Fischer anders mache. Was ermöglicht es ihm, das zu erreichen, was er erreicht hatte?

Einen Meter rechts, links, nach hinten

“Ich glaube, dass er taktisch sehr gut ist”, antwortete er. “Und ich glaube, dass er ein echtes Verständnis für den Fußball hat, für das, was auf dem Spielfeld passiert … Aber ich denke, dass es nicht nur das ist. Urs Fischer weiß, wie man es lehrt, und das ist der schwierige Teil. Denn manchmal macht es einen Unterschied, ob man einen Meter rechts, einen Meter links oder einen Meter hinten steht. Er weiß das und kann es erklären. ”

Fischer kann die Spieler dazu bringen, sich innerhalb scheinbar starrer Strukturen ausdrucksstark zu verwirklichen. Von den luftigen Höhen der obersten Etage des Olympiastadions aus sahen die Linien, die seine Mannschaft auf dem Spielfeld zog, wie Architekturzeichnungen aus.

Ich wollte wissen, wie Fischer dazu beigetragen hat, Union zum Erfolg zu führen, einen Verein, der so sehr in seiner eigenen rebellischen Mythologie verwurzelt ist, dass sie ihn oft gebremst hat. Biermann sagte, sein direkter Einfluss beschränke sich auf die sportliche Abteilung, aber durch seine Professionalität und sein umfangreiches Übertragen von Aufgaben habe er alle anderen mitgerissen.

Vailati sagte: “Er hat ein gutes Herz, er ist sehr klar. Man kann mit ihm ausgehen, einen Kaffee trinken und über alles reden. Er war immer so, mit dem besten Spieler der Mannschaft oder dem, der nur ein paar Mal spielt. Für ihn war es sehr wichtig, dass die Person – der Mensch – vor dem Spieler kommt.”

“Aber ich finde auch seine Fähigkeit, ein Gespür dafür zu entwickeln, was mit den einzelnen Spielern los ist, was mit der Mannschaft los ist, Augenmerk für diese positive Atmosphäre zu haben … Ich finde, er ist einfach ein sehr guter Trainer … Er ist herausragend”, sagte Biermann.

So konnte jemand wie Christopher Trimmel nicht nur als Kapitän aufblühen, sondern sich auch fußballerisch verbessern. Diese “Meter hier, Meter da”-Anweisungen haben ihn als Spieler verändert.

Urs Fischer gibt Anweisungen, seine Spieler Christopher Trimmel und Sebastian Andersson hören zu, Foto: Matze Koch

In seinem Buch erzählt Biermann eine Geschichte, in der Trimmel zu einer Geburtstagsfeier für eine sterbende Freundin ging. Mit stockender Stimme bat sie ihn, ihr einen Elefanten zu tätowieren – das stärkste aller Tiere, hatte sie gesagt – und die Nacht dauerte bis in die frühen Morgenstunden, als er mit fürsorglichen Händen sieben anderen Teilnehmern der Party dasselbe Tattoo verpasste.

Es bot einen Einblick in die Menschlichkeit und das künstlerische Empfinden, das man in der Nacherzählung einer Bundesligasaison, in einer Welt der Alphamännchen, nicht erwarten würde. Biermann wohnte in der Nähe von Trimmel. Sie verbrachten einige Zeit zusammen, und man hat das Gefühl, dass der Autor mit dem fast schon künstlerisch-intellektuellen Rechtsverteidiger mehr gemeinsam hatte als mit vielen anderen im Union-Milieu. Und Biermann sagte selbst, Trimmel verdiene viel Anerkennung für seine Entschlossenheit, das beste aus sich zu machen.

Aber es ist auch ein Verdienst von Fischer, dass er ihm den Raum zum Atmen und genug Verantwortung zum Wachsen gegeben hat.

Ein Tor im strömenden Regen

Das Tor, das er im strömenden Regen im Olympiastadion gegen Feyenoord geschossen hat, war von donnernder Schönheit und dem Anlass damit ganz angemessen. 0:1 zurückliegend gegen eine Mannschaft, die die Fans über die zwei Wochen zuvor hassen gelernt hatten, kam Union zwei-, dreimal zum Abschluss. Und plötzlich wirbelte die Mannschaft im letzten Drittel eines aufgeweichten Platzes, auf dem der Ball nicht mehr laufen wollte, und der in der Nähe der Eckfahnen Untiefen und Pfützen aufwies. Es war grimmig da draußen. Der Wind kämpfte gegen alle. Der Ball hüpfte unkontrolliert umher, und es drohte ewig so weiterzugehen. Bis Trimmel ihn voll traf. Ein Schuss, dessen Flugkurve erst aufhörte zu steigen, als sein Schwung schließlich vom Netz gebrochen wurde.

Christopher Trimmel jubelt nach seinem Tor zum 1:1 gegen Feyenoord Rotterdam, Foto: Matze Koch

Union war über weite Strecken des Spiels unterlegen. Zwar nicht gravierend, aber die Niederländer waren cleverer und schienen diese Sorte Spiel eher gewohnt zu sein. Das Tor von Trimmel bot eine Chance, wenn auch letzten Endes eine ungenutzte.

Sein Chef hörte sogar kurz auf, an der Linie auf und ab zu gehen und Anweisungen zu geben. Mit gebellten Kommandos im Angesicht des Sturms wie Jack Londons sinnbildlicher Kapitän Wolf Larsen in “Der Seewolf” wirkte der Trainer. Und es war für einen Moment, als stünde er an Deck, um zu feiern.

‚Seine Hände, die in die Spaken griffen und den Schoner in den Kurs zwangen, den er wollte. Er selbst ein irdischer Gott, der den Sturm beherrschte, das herabstürzende Wasser von sich abschleuderte und sein Fahrzeug ritt, wohin er wollte!‘

Urs Fischer beim Heimspiel gegen Feyenoord Rotterdam im Olympiastadion, Foto: Matze Koch

Ganz ähnlich war Trimmels Tor in der Alten Försterei im Derby gegen Hertha wenige Wochen später aus einer fast gleichen Entfernung. Doch es war ein anderer Winkel und Trimmel befand sich auf rechts, seiner “natürlichen” Seite des Spielfelds. Diesmal traf er, bevor der Ball ein zweites Mal aufsprang, nach einer weit nach außen geschlagenen Ecke, durch den Strafraum in Richtung hinterer Pfosten und dann flach durch den Pulk von Spielern hindurch.

Wenige Tage zuvor hatte er in einem WM-Qualifikationsspiel ein Tor für Österreich erzielt. Ende 2021 machte Christopher Trimmel den Eindruck, einer der besten Außenverteidiger in einem Land voller Außenverteidiger zu sein. Er hatte eine breite Brust.

Unprätentiös und authentisch

Christoph Kieslich erzählte mir eine Anekdote, von der er meinte, sie würde mir helfen, Fischer zu verstehen. Sie handelt davon, dass er seit sechzehn Jahren einmal in der Woche mit dem ehemaligen Basler Sportdirektor Georg Heinz Fußball Fünf gegen Fünf spielt. Danach gehen sie oft auf ein Bierchen und ein Schnitzel in ein Restaurant. Das hat dem deutschen Schriftsteller geholfen, sich einzuleben, denn er vermisste seine Heimat, seine Freunde und seine Routine. Es ist schwer, in ein neues Land zu ziehen, in dem die Sprache zwar wie die eigene ist, aber nicht ganz dieselbe.

Und Fischer tauchte ein paar Mal bei diesen Treffen auf.

“Er war wahrscheinlich 49, 50 Jahre alt. Natürlich versteht er das Spiel, er hat fünfhundert Mal in der höchsten Liga gespielt. Wir spielten in einem langsamen Rhythmus, hatten aber Spaß. Kein Tackling, weil wir alle am nächsten Tag zur Arbeit mussten. Aber es war trotzdem ein bisschen Temperament da. Wir ließen den Ball laufen … Es war in vielerlei Hinsicht faszinierend, denn Urs hatte so viel Klasse. Obwohl er ein Verteidiger war, ist er die Art von Kerl, der ohne Training und alles spielen kann … sein Touch bei jedem einzelnen Ball war perfekt, der Ball war sicher bei ihm. Er hat immer den richtigen Pass gespielt. Kein Dribbling, auch da nicht. Er war unprätentiös, authentisch.”

“Ich erinnere mich an ein Spiel, in dem wir bis zehn spielten”, fuhr er fort, „und beim Stand von 9:9 erzielte Urs mit einem unglaublichen Volleyschuss das zehnte Tor, und er rannte jubelnd über das Spielfeld. Er malte ein Bild von Fischer, wie er über das Spielfeld stürmte und jubelte. Und hinterher in der Kneipe war er wie einer von ihnen, spaßig, entspannt, lässig.

Christoph Biermann ist immer noch sichtlich beeindruckt von ihm, und ich glaube nicht, dass es einfach ist, Biermann zu beeindrucken. Er schreibt seit langem über Fußball auf höchstem Niveau, auf einem Niveau, das höher ist als das, was Union während der meisten Zeit seiner bescheidenen Geschichte je erreicht hat.

Im Wintertrainingslager 2020 in Spanien: Urs Fischer und Christoph Biermann, Foto: Matthias Koch

„Was waren deine ersten Eindrücke von ihm, warst du etwas eingeschüchtert?“, fragte ich, nachdem es mir selbst genau so gegangen war. “Nein”, sagte er. “Das einzige Mal, dass ich es war, und auch von Markus Hoffmann, war gegen Ende der Saison, als sie eine Flaute und eine halbe Krise hatten, da fand ich sie unerträglich. Da herrschte eine große Spannung, mit der ich nur schwer umgehen konnte. Aber, nein, ich war nie eingeschüchtert.”

Die Erwähnung von Hoffman, seinem Co-Trainer, ist wichtig. Seine Fußballkarriere ist anders als die von Fischer. Er hatte nicht den Luxus, seine ganze aktive Zeit bei so wenigen Vereinen zu verbringen, Woche für Woche aufzutauchen, ein geliebter Name, der mit Blut auf dem Mannschaftsbogen geschrieben steht. Er war ein Stürmer in den unteren Ligen, der um Tore kämpfen musste. In 35 Einsätzen für Wacker Burghausen erzielte er zwei Tore, eines davon bei einer 1:5 Auswärts-Niederlage beim SSV Reutlingen. Es war der Ausgleichstreffer, zwei Minuten nach Beginn der zweiten Halbzeit, und 18 Minuten später wurde er des Feldes verwiesen. Genauso wie ein anderer seiner Mannschaftskameraden. Und auch sein Trainer.

Er ist ein ständiger Begleiter, Fischers Kollege, Angelkamerad (er war dabei, als Germano sie zum ersten Mal an den See mitnahm), sein Mitplaner, Taktiker, Analytiker und Fussballbesessener (und auch dabei, als sie in Basel Fünf gegen Fünf spielten). Aber er ist auch sein engster Freund in einer Stadt, in der sie nur wohnen, weil sie hier arbeiten.

Ohne Hoffi, so vermutet man, wäre Fischer dort nichts.

Kieslich sagte: “Es ist kein Geheimnis, dass er jeden Abend mit Markus zusammen arbeitet, was die beiden machen, ist ernsthafte Arbeit. Es ist vielleicht mehr, aber nicht weniger. Es ist Arbeit.”

Denn Urs Fischer ist nicht wegen des Glamours in Berlin, oder für den Rausch, kommerziellen Techno zu hören, der gemacht ist, Autos zu verkaufen und in überteuerten, mit Fußballern vollgestopften Bars gespielt wird. Er ist auch nicht da, um die ständige Bewegung einer Stadt zu beobachten, die Karl Scheffler 1910 als “dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein” beschrieb.

Als ich Biermann fragte, ob er Fischer im Laufe der Saison näher gekommen sei, so wie es mit Trimmel offensichtlich geschehen ist, sagte er: „Ich glaube, dass ihm niemand wirklich nahe kommt. Und ich denke, das ist ein Teil dessen, wie er das macht, was er macht … Ich glaube, er sieht es als eine Art beruflicher Pflicht an, eine gewisse Distanz zu den Spielern, dem Personal, dem Präsidenten und allen anderen im Verein zu wahren, gewissermaßen damit die Dinge nicht emotional werden.“

Urs Fischer und Christoph Biermann im Gespräch, Foto: Matze Koch
Urs Fischer und Christoph Biermann im Gespräch, Foto: Matze Koch

„Er war sehr nett zu mir und alles. Aber er wollte nicht mein Freund sein. Es gab Grenzen wie bei den anderen. Und ich glaube, er ist sich sehr bewusst, was mit den Leuten passiert, mit denen er arbeitet, und die meisten von ihnen sind auch glücklich damit, weil er ihnen Freiraum gibt.“

Es gehe darum, zu wissen, wo man die Grenze zieht.

Laut einer etwas skurrilen Lobeshymne in der schweizerischen Zeitung “Blick” lebt Fischer in Köpenick an der Spree in einer sauberen Wohnung mit schlichten, aber strengen schwarzen Möbeln, die er sich über die Alpen hat bringen lassen, damit es sich ein bisschen wie zu Hause anfühlt. Seine erwachsenen Töchter haben ein kleines Zimmer mit zwei Einzelbetten, die für ihre Besuche hergerichtet sind. Er betont, wie sehr er seine Frau vermisst.

Loyalität

Gelegentlich raucht er noch, trinkt gerne ein Glas Wein und isst abends Spaghetti, während er sich im Fernsehen Fußball anschaut. Morgens trinkt er dort allein einen Kaffee, bevor er die Straße runter in sein Büro im Bauch des Stadions fährt.

Es ist ein fast asketisches Dasein – fast – und es hat etwas Trauriges an sich. Aber Fischer muss es so machen, es passiert alles im Namen der Arbeit, die zu tun ist.

Ich denke, dass dies zu dem Punkt führte, an dem sie, laut Biermann, “unerträglich” wurden. Er schrieb:

“Vor der Saison hatte mich Fischer gewarnt, dass es Momente geben könnte, in denen er ‘dünnhäutig’ wird …” Er beschrieb die Vorbereitung auf ein Schalke-Spiel. “Sie wurden nicht laut und polterten, aber es schien eine dunklere Kraft in ihnen am Werk zu sein, die entweder vorher nicht da war, die ich übersehen hatte oder die sie vor mir verborgen hielten.”

Urs Fischer mit seiner Mannschaft. Foto: Sebastian Räppold/Matze Koch

In einem der wenigen Interviews, die er für das Programmheft von Union gegeben hat, sagte er, seine Lieblingsplatte sei “Papa was a Rolling Stone” von The Temptations. Das war nicht nur deshalb bemerkenswert, weil ich ihn nicht als einen psychedelischen Soul-Mann eingeschätzt hatte, sondern auch, weil es ein Lied über Verrat, über Lügen und über einen Mann ist, der das Gegenteil von allem zu sein scheint, was ich von Fischer zu erwarten gelernt hatte.

Ja, vermutlich hat er es ausgewählt, weil es verdammt nahe daran ist, der popkulturelle Höhepunkt des 20. Jahrhunderts zu sein, aber dennoch steht der Text im Widerspruch zu dem, was Fischer am wichtigsten ist.

Meine letzte Frage betraf Loyalität. Ich hatte gefragt, wie wichtig sie ist, im Fußball wie im Leben.

“Loyalität ist das Wichtigste von allem”, sagte er. “Ich glaube, ohne Loyalität gibt es keine Gemeinschaft. Ich glaube, wenn jemand nicht loyal ist, dann …”

“Aber denken Sie, dass manchmal …”, begann ich, aber er kam mir zuvor und unterbrach mich.

“Nein …. Tschüss. Es ist vorbei. Mach einen Strich darunter. Auf Wiedersehen”, sagte er unverblümt. “Ich glaube, das ist eine Grundvoraussetzung für die Arbeit.” Er brach ab, unfähig die Fassung zu bewahren angesichts so einer dummen Frage.

Ich fragte, ob er mit diesem Glauben im modernen Fußball nicht ein wenig altmodisch sei.

“Ich bin was?”

Ich sagte, dass ich nicht mehr viel Loyalität im Fußball sehe.

“Ooooh, natürlich. Jeden Tag. Sehen Sie sich die tägliche Arbeit in meinem Trainerteam an. Ich glaube, wenn du nicht loyal bist, dann würde niemand drei Jahre lang zusammenarbeiten … Eieiei … Es gibt keine Chance, keine Chance, keine. Keine”.

Er war bei bloßen Silben angekommen und konnte nicht glauben, dass ich so zynisch sein kann, wo sich doch alles, was er tut, sein ganzes Universum, um dieses grundlegendste aller menschlichen Prinzipien dreht. Er konnte es sich nicht vorstellen. Seine Stimme erhob sich nicht vor Verärgerung, sondern wurde etwas tiefer, und er schaute mich an, als wolle er mich fragen, ob das alles gewesen sei. Ähnlich wie er es bei Christian Arbeit am Ende der Pressekonferenzen tut. Ich dankte ihm für seine Zeit. Wir tauschten noch ein paar Höflichkeiten aus und er verabschiedete sich.

Aber zuvor, ich schwör’s, habe ich ihn noch den Kopf schütteln sehen über die bloße Vorstellung.

Übersetzung von Daniel Roßbach und Robert Schmidl.

10 Kommentare zu “König der Fischer

  1. Wuhleblut

    Wow, was für eine text.
    Bravo!
    Bin (schlussendlich) begeistert,

  2. Tausend Dank an allen die an diesem Text gearbeitet haben. Ein wirkliches Meisterwerk. Vielen, vielen Dank!

  3. Jan Grobi

    Danke

  4. Wunderbarer Text. Danke dafür !

  5. Überragend, fast jeder Satz auf’m Punkt!
    Ein friedliches 2022 gewünscht- Eisern!

  6. Exilunioner

    Höchst verehrter Sweetman, was für ein unglaublich großartiger Text!
    Da ich nicht auch nur annähernd über eine derartige Schreibkraft verfüge, einfach nur vielen vielen Dank dafür!
    Und alle anderen, die ich hier tagtäglich ebenso gerne lese, möchte ich an die Schlosserjungs aus Oberschöneweide erinnern, die in auswegloser Situation…
    Kann es am zweiten Tag des Jahres etwas Ermutigerendes und Anspornenders geben, als diesen Text?
    Besser hätte man das neue Jahr nicht einläuten können!
    Ich werte das jetzt einfach mal als ein Zeichen dafür, dass uns Unionern und damit auch allen Textilvergehen Begehenden ein weiteres legendäres Jahr bevorsteht.
    EISERN

    • Carmen Roelke

      Was soll ich sagen? Bei vielen musste ich aufpassen dass ich nicht zu emotional werde. Der Rückblick und Einblick in Urs sein Leben hat mich stark berührt.
      Danke für die tolle Saison

      U.n.v.e.u.

  7. nightyhawk

    Was ein Text?! Hammer und vielen Dank dafür…

  8. Carsten Krummrey

    Ich bin arg begeistert, ein toller Text, ein tolles Abbild von uns‘ Urs, vor allem der letzte Absatz. Ja, das ist so. Ich hatte die Gelegenheit, beim Trainingslager in Spanien etwas länger mit ihm zu reden. Authentizität und Loyalität, das sind tatsächlich die Begriffe, die Dir bei Gedanken an ihn zuerst in den Kopf gehen. Seine Fußballkarriere ist schon bemerkenswert, was er hier bei Union kieken lässt, ist jedoch gigantisch, schlicht überragend. Dankeschön für diesen Artikel an Sie, herzlichsten Dank an Urs Fischer für die hier bei uns Unionern geleistete fachlich kompetente, akribische Arbeit!! In Freude auf ein hoffentlich wieder so erfolgreiches neues Jahr 2022 bei Eiserner Gesundheit, Gruß – Kalle

  9. Spitzentrainer, Spitzentext! Bis auf den Fauxpas am Schluss, ist doch klar, das es ihn anfixt, wenn sein höchstes Gut, die Loyalität in Frage gestellt wird.
    Aber kann man ja mal machen!?????
    Immer eisern!????

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