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Reliquien

Es könnte so einfach sein. Man schnappe sich eine der reflexhaften Pressemitteilungen vom „Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft“, Rainer Wendt, mit denen er die Medien des Landes nach jedem Aufruhr versorgt, und seziere sie. Aber das wäre zu simpel, denn diese „Forderungen“ sind durchsichtig und folgen lediglich dem Prinzip „Je unsinniger und plaktiver, desto eher werden sie verbreitet.“ Sich an Aussagen der Deutschen Polizeigewerkschaft oder der Gewerkschaft der Polizei abzuarbeiten hieße in dem Kontext, demjenigen Aufmerksamkeit zu schenken, der am lautesten schreit. Das kann man anderen wie dem Geschäftsführer von Borussia Dortmund überlassen, der über Rainer Wendt sagt: „Wenn ich sehe, dass er sich wie ein Innenminister aufspielt und zu allem seinen Senf dazu gibt, platzt mir der Kragen.“

Interessant wird es, wenn sich Personen mit Bedacht äußern, die Entscheidungen so vorbereiten können, dass sie zur Abstimmung kommen können. Ein Beispiel dafür ist Holger Hieronymus, stellvertretender Geschäftsführer der DFL und für den Spielbetrieb verantwortlich. Und der sagt in einem Interview mit dem ZDF (das gesamte fast zehn Minuten lange Gespräch ist sehr sehenswert) folgendes:

Stadion der Zukunft. Sieht das so aus wie in Amerika? Keine Stehplätze mehr, nur noch Sitzplätze, die ja sowas [Anm. d. Red.: gemeint sind die Vorfälle im Olympiastadion beim Spiele Hertha – Nürnberg] minimieren würden?

Ich glaube, und wenn ich mir die Diskussionen, die noch nie so intensiv geführt worden mit der Fanszene wie 2010, ansehe und wir immer wieder darauf hingewiesen haben, dass für den Fall, dass wir keine deutliche Qualitätsverbesserung im Sinne von weniger Ausschreitungen sehen können, dann wird es irgendwann auch an Reliquien gehen, die es in deutschen Stadien immer noch gibt. Das sind Stehplatzbereiche und zehn Prozent Gästetickets. All diese Dinge haben wir bereits in Frage gestellt in der Diskussion mit den Fans. Ich glaube, wir werden über diese Maßnahmen all along reden müssen. Und ich hoffe nicht, dass wir dann eine Stadionstruktur wie in Amerika oder auch in England haben werden. Allerdings müssen die Maßnahmen, die wir uns überlegen, greifen, um dies zu verhindern.

Die Diskussion mit den Engländern, die ja als erste versucht haben, das Hooligan-Problem in den Griff zu bekommen und dabei relativ erfolgreich waren. Die Zäune sind wieder weg.

Ja, ich denke der Erfahrungsaustausch mit den Kollegen aus England sieht so aus, dass wir die Maßnahmen die seinerzeit vorgenommen worden sind, nachvollziehen können. Sie haben letztendlich zu einer Form des Erfolges geführt, dass es zumindest innerhalb der Stadien diese Ausschreitungen in der Form nicht mehr möglich sind.

In diesen Zusammenhang muss die Entscheidung des FC St. Pauli und der Hamburger Polizei gesehen werden, lediglich 500 Sitzplatzkarten personalisiert an Rostocker Anhänger zu verkaufen. Natürlich ist dieses Vorgehen ein Dammbruch. Der Berliner Polizeipräsident Glietsch wollte bereits vor zwei Jahren den Anhängern von Dynamo Dresden die Anreise verbieten und nahm für sich auch das Totalverbot von Partien in Anspruch. Die Dresdner Ultras reagierten mit einem größtenteils eingehaltenen Boykott des Spiels.

Sämtliche Anhänger befinden sich angesichts solcher Forderungen in einer Lose-Lose-Situation. Zunächst wird eine große Drohkulisse aufgebaut und mit Maximalforderungen unterlegt. Anschließend wird ein „Kompromiss“ gefunden, der vorher von Verein wie Anhängern rundweg abgelehnt worden wäre. So spricht Paulis Präsident Littmann jetzt nach der Einigung mit der Polizei von der „weitestgehend möglichen Wahrung der Fanrechte„. Natürlich passiert bei einer solcherart zu einem Hochsicherheitsspiel hochgejazzten Partie erwartungsgemäß nichts, was anschließend nur mit dem hohen Sicherheitsaufwand begründet wird. Beweisen kann diese Aussage niemand.

Der 1. FC Wundervoll feierte erst gestern mit einer Kinopremiere erneut den Bau seines fast reinen Stehplatzstadions. Das Stadion an der Alten Försterei besitzt neben 2460 Sitzplätzen 16.540 Stehplätze. Eine Grundbedingung für Präsident Dirk Zingler bei der Planung und für die Mitarbeit der Fans an diesem Stadion war der Erhalt der Stehplätze entsprechend den Kriterien für den Spielbetrieb von DFL und DFB. Die Stehplätze sind ein Selbstverständnis für die Fankultur des Vereins. Maßnahmen wie in England aufgrund der Umsetzung von Vorschlägen des Taylor-Reports wären das Ende der Atmosphäre, die man mit Union verbindet.Aus diesem Grunde befindet sich der Verein in einer Findungsphase, wie mit Anhängern umgegangen werden soll, die sich nicht an die Regeln halten. Bewusst wurde auf plakative Maßnahmen verzichtet und die Diskussion in die Vereinsgremien gegeben. Die bald erwarteten Ergebnisse und ihre Wirksamkeit werden für alle von immenser Wichtigkeit werden. Sie werden das Verhältnis von Verein, Fans, Verband und Sicherheitskräften bestimmen.

Holger Hieronymus hat leider nicht ausgeführt, wie er Reliquie meinte: Gegenstand religiöser Verehrung oder Überbleibsel…

14 Kommentare zu “Reliquien

  1. Letzteres hieße dann doch eher Relikt, oder?

  2. Stefan (Mycrosoft)

    Danke für den sehr ausführlichen und, wie ich finde, sachlichen Text. Ich persönlich finde diese Drohungen, mit dem Entzug der Stehplätze kommen der Drohung verzweifelter Eltern gleich, dem Kind das Lieblingsspielzeug wegzunehmen. Man baut dabei zwar einen enormen Druck auf, aber das eigentliche Problem löst es nicht.

    In der letzten Saison im Jahn-Tierpark gab es offiziell auch keine Stehplätze und trotzdem habe ich jedes Spiel gestanden. Also wo ist der Unterschied, außer das ich dann noch größere Stolperfallen im Stadion habe?

    Dieser ewige Vergleich mit anderen Ländern führt meines Erachtens nach nur bedingt zum Erfolg. Die Stadien in England sind nicht dadurch „sicherer“ geworden, dass man Zäune abgebaut hat, sondern viel mehr durch eine Art Gentrifizierung der Stadien durch übermäßige Eintrittspreise. Dazu kann man gerne mal die Ticketpreise der Bundesliga und der Premierleague vergleichen.

    Der Abbau der Zäune hatte in England zudem eine ganz andere Wirkung, da die Zuschauer, Fans oder Stadionbesucher durch das Hillsborough-Unglück (http://de.wikipedia.org/wiki/Hillsborough-Katastrophe) eine andere Einstellung zu Zäunen hatten. Der Abbau der Zäune in den Stadien war für sie deswegen ein Weg zur Gewährleistung der Sicherheit vor Massenpanik und anderem.

    Das es Platzstürme auch in England noch gibt hat man doch erst in dem Spiel Westham vs Millwall (http://news.bbc.co.uk/1/hi/8221451.stm) letzes Jahr gesehen.

    Es ist definitiv ein schwieriges Thema, aber ich stehe den Forderungen der Polizei kritisch gegenüber und halte Sie für puren Aktionismus. Auf der Seite der Fans, Verband und Vereine muss aber
    definitiv etwas passieren und konstruktive Dialoge geführt werden, bevor der blinde Aktionismus wirklich das Handeln der Verantwortlichen bestimmt.

  3. Sie kennen ja meine Meinung dazu. Schön finde ich das sicher nicht. Aber es war absehbar. Und nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Hätte sich die soviel gerühmte „Selbstregulierung“ unter Mithilfe von Vereinen und Fanverantwortlichen in dem Maße abgespielt, wie jetzt wehklagt wird, wären wir wahrscheinlich nicht so weit gekommen.

  4. @keano Ich gebe zu, dass ich von der Unterscheidung zwischen Relikt und Reliquie im heutigen Sprachgebrauch weiß. Von der Wortherkunft geht das aber schon in Ordnung.
    Iich wollte es mal auf die Spitze treiben mit der Pointe zum Schluß, denn ganz sicher bin ich mir nicht, was Hieronymus damit meinte. Eine Reliquie sind Stehplätze ganz sicher bei Union, Dortmund, St. Pauli und einigen anderen Vereinen nicht. Sie werden zwar verehrt, sind aber keine Reste sondern integraler Bestandteil der Stadien. Ein Relikt hingegen sind meiner Meinung die Stehplätze in Stadien, die neu gebaut wurden, sich heute Arena nennen und mit Chipkarten die „Gastronomie“ abwickeln. Beispiele für mich: Stadion in München, Gelsenkirchen oder Leipzig. Da ist die gesamte Architektur anders ausgelegt.
    Aber Recht hast du natürlich: Die Frage nach Relikt oder Reliquie ist eine Diskussion um des Kaisers Bart und bringt einen nicht weiter, wenn die Stehplätze grundsätzlich in Frage gestellt werden.

  5. Ich bin mal so frei, auf die Brandrede von Jekylla im Blog „Fabulous Sankt Pauli“ hinzuweisen: Über Fanrechte, Polizei und Konsequenz

  6. Grundgütiger Gott! Brandrede???? Bloß meine Meinung!
    Brandreden hält allenfalls unser von uns allen hochverehrter Trainer ;-)

  7. @Sebastian

    Ich wollte um Gottes Willen nicht klugscheißen, auch wenn es sich wahrscheinlich so liest. Ich hatte gestern leider nicht ausreichend Zeit, mehr zu schreiben.
    Ich habe mich sehr über Deinen Artikel gefreut, viele der von Dir geäußerten Gedanken hatte ich mir auch schon gemacht, besonders eben auch im Hinblick auf die Fanszene des 1.FC Union und unser Stadion.
    Es ist ja immerhin erfreulich (und bei der DFL sicher nicht selbstverständlich), dass Hieronymus sich ausdrücklich gegen „eine Stadionstruktur wie in Amerika oder auch in England“ ausspricht. Dass natürlich andererseits schon mit der Peitsche des Stehplatzverbots gewunken wird, passt dann wieder besser ins Funktionärsbild.
    Aber natürlich gibt es ein – in den oberen Ligen – zunehmendes Gewaltproblem, natürlich muss die Fanarbeit immer wieder auf Wirksamkeit überprüft werden, und natürlich verschlechtert jede veröffentlichte Ausschreitung die Verhandlungsbasis derer, die auf einen Dialog setzen. Und ich empfinde auch die Entwicklung von zumindest Teilen der Ultra-Szene als extrem problematisch (angenehm unaufgeregter Artikel dazu in der SZ: http://www.sueddeutsche.de/sport/710/505896/text/ ). Sie pauschal auszusperren, löst das Problem aber natürlich überhaupt nicht.
    Angesichts der jetzt von Rainer Wendt et al geäußerten Law-and-order-Forderungen, erscheint der offene Brief der Fanbeauftragten durchaus prophetisch.

    Ich bin derzeit wirklich gespannt, wohin sich das ganze entwickelt, und ich bin froh, dass wir bei Union ein Präsidium haben, das offensichtlich genug Fansensiblität und Differenzierungsvermögen hat, nicht jeder durch’s Dorf getriebenen Sau reflexhaft hinterherzurennen.

  8. hackelschorsch

    Ich frage mich ob die Diskussion um Stehplätze im Zusamenhang mit dem Risiko von Gewaltexzessen im Stadion nicht eine Scheindebatte ist. In der Wikipedia-Erklärung zum Taylor-Report findet man ja auch diese Aussage: „Obwohl der Bericht den Stehbereich in einem Stadion nicht generell als ein Sicherheitsrisiko einstuft, entschied sich die britische Regierung für eine konsequente Abschaffung von Stehplatzsektionen.“ Warum hat die britische Regierung die Abschaffung der Stehplätze so forciert? Hatte das nicht mit dem Plan zu tun den Stadionbesuch für andere Bevolkerungschichten attraktiver (Gentrifizierung) zu machen und die Erhöhung der Eintrittspreise zusätzlich zu begründen? Auslöser der Diskussion waren ja die Ausschreitungen am Samstag in Berlin: Aber das Olympiastadion ist ein Sitzplatzstadion und die 150 Hertha-Chaoten kamen aus einem Sitzlatzbereich. Also was haben die Forderungen Stehplätze abzuschaffen mit der Verhinderung von Ausschreitungen zu tun. Die Einführung reiner Sitzplatzstadien in England wird ja immer wieder herangeführt als Beispiel für eine Maßnahme, die Gewaltexzesse in Stadien verhindert. Schaut doch mal in die unteren Ligen in Großbritannien. Da gibt es weiterhin eine Vielzahl von Ausschreitungen. Diese wurden doch nur von der Premierlague in untere Ligen verschoben und sind damit nicht mehr so in der Öffentlichkeit.

  9. Ich fürchte nicht, dass das eien Scheindebatte ist, wenn ich sehe, wer in der Politik sich jetzt gerade wieder einmischt. Im Sportauschuss des Abgeodnetenhauses wird es eine Sondersitzung zu den Vorfällen vom letzten Wochenende geben. Und auch die Frge der Derbys wird da bestimmt schon eine Rolle spielen. Man sollte in aller Ruhe schon jetzt auf seine Abgeordneten einwirken, dass da kein öffentlicher Druck aufgebaut werde. Nicht, dass wir bei „Heimspielen“ auch ins „Stadion der olympischen Weltjugend“ müssen, nur weil wir gegen den Ortsrivalen kicken.

  10. das sind die momente, in denen es mich mehr als sonst zu lichtenberg47 zieht. da gibt es weder ausschreitungen noch sitzzwang. weiß bloß nicht, ob das dort vorgetragene spiel schon fußball genannt werden darf.

    ich kanns mir, genau wie @hackelschorsch, nur so erklären, dass ein ungestümes publikum gegen ein gestümes ausgetauscht werden soll – gegen ein reicheres und zahmeres.

  11. International müsstet ihr dann aber wohl ausweichen, oder?

    Naja, bis dahin ist noch ein langer weg…

  12. 2001 wurden die UEFA-Cup Spiele von Union gegen Valkeakovski und in der zweiten Runde gegen Lovech im Jahn-Sportpark ausgetragen. Den hast Du ja auch schon gesehen bei Türkyiem gegen Hannover 96 II. Ganz tolles Stadion…

  13. Hm, dann steht also dem internationalem Wettbewerb nichts im Weg :-)

  14. […] Mathias Bunkus vom Berliner Kurier hat es geahnt, als er sagte, er befürchte die Diskussion um Stehplätze sei keine Scheindebatte und man müsse aufpassen, dass kein öffentlicher Druck aufgebaut werde, der bewirkt, dass Union das Heimspielrecht im vermutlich nächste Saison stattfindenden Derby gegen Hertha BSC verliert. Öffentlicher Druck meint meist, dass solange herumtelefoniert wird, bis man jemanden findet, der eine Aussage tätigt, die man hören möchte. Die wird dann publiziert und dann wird wieder herumtelefoniert und Entscheidungsträger werden dann gefragt, wie sie zu dieser Aussage stünden. Öffentlicher Druck meint also meist die veröffentlichte Meinung oder positiv gesagt: die vermutete öffentliche Meinung. […]

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